Die Schallplatte mit dem angefressenen Apfel, bitte. „Schlaraffenberg“ von Karussell war eine großartige Platte in der DDR. Allen voran das Titelstück von 1982. Was habe ich das Lied geliebt! Überhaupt fand ich die ganze Platte riesig. Die Herren Raschke, Gläser, Hohl, Huth und Winter kamen auf den rund 40 Minuten mit allen möglichen Blues-Spielarten daher. Damit waren Karussell die amerikanischste DDR-Band. Und wir unterhalten uns mal eben über das Titelstück. Nachdem ich mal darüber schrieb, dass sie wieder zurück sind.
Schlaraffenberg, bitte was?
Meine stille Geliebte, meine heimliche Braut, du wohnst hinter den Tagen, die so voll sind und laut. Du wohnst hinter den Nächten, die so schwer sind wie Blei. Meine stillte Geliebte, bald mach ich mich frei.
Immer denk‘ ich an dich nur, wenn ich acker‘ und schaff‘. Wenn ich von Oberflächen mir das oberste raff. Wenn ich Sicherheit suche und nur Steinwände find‘. Wenn zur Sonne ich fliege: Absturz, Aufschlag, blind.
Meine stille Geliebte, meine heimliche Braut, ich will hin, wo du wartest unterm Schnee deiner Haut. Und du wirst dich mir öffnen mit dem Samt deines Blicks, mir die Tränen abtrocknen. Höhepunkt des Glücks.
Doch erst erfüll‘ ich die Normen, erst erfüll‘ ich die Pflicht, press ich mich in die Formen. Vorher kann ich nicht.
Verdammt, nur erst durch diesen Berg Organisiertheit. Erst durch diesen Berg Schokoladenersatz. Erst durch diesen Berg Cleverness und Versiertheit. Dann bin ich bei dir.
Auf halbem Weg zwischen „Wer die Rose ehrt“ und „Als ich fortging“
Die Gruppe Karussell wurde 1976 aus den Resten der davor verbotenen Band Renft in Leipzig gegründet. Und wie es auch bei der Vorgänger-Band war, so war es auch bei Karussell: Kryptische Gesellschaftskritik. Nur war Chef Wolf-Rüdiger Raschke etwas anders als sein Vorgänger Klaus Renft. Die Texte waren gefälliger für die Staatsführung. Das Lied „Schlaraffenberg“ zeigt das ziemlich gut. Der Text stammt wie bei „Wer die Rose ehrt“ von Kurt Demmler.
Es wird behauptet, Raschke sei inoffizieller Mitarbeiter (IM) gewesen (auf Seite 4 von 10). Ebenso auch der andere Kopf, der legendäre „Cäsar“, Peter Gläser. Aber ich möchte behaupten, dass dies den Inhalten nicht geschadet hatte. Gerade beim Lied „Schlaraffenberg“ höre ich durchaus heraus, dass die stille Geliebte eben keine real existierende Frau war, sondern vielleicht auch „der Westen“. So ist das ganze Album aber auch gehalten.
Die Platte enthält Kritik am DDR-Fernsehen („Flimmertheater“), fehlende Ziele („Sirene“), Liebe im Arbeiter-und-Bauernstaat („Sterne in der Nacht“), natürlich das Thema Blues („Mein Bruder Blues“), schnellen Sex („Gelber Mond“), die schnelle Versuchung („Zweifel“), Alltag („Wochentag“), Renitenz („Der Neinsager“) und den kalten Krieg („Keiner will sterben“). Warum sollte also das Titelstück „Schlaraffenberg“ nicht auch mit einem kritischen Thema kommen? Warum nicht die Sehnsucht nach dem Westen?
Das Lied steht auf halbem Weg zwischen „Wer die Rose ehrt“ und „Als ich fortging“. Also zwischen zwei monumentalen Lyrik-Monstern. Wahrscheinlich den einflussreichsten Liedern der DDR-Geschichte. Die Band – egal, wer gerade getextet hatte – hatte immer mit Worten experimentiert. Und das ist eben auch bei Liedern wie „Scharaffenberg“ zu hören.
Das Lied
Ich war damals 9 Jahre alt, als „Schlaraffenberg“ auf den DDR-Markt kam. Das war nicht so richtig Kessel-Buntes-geeignete Musik. Aber das Titelstück gefiel mir vom ersten Takt an. Die rhythmischen Gitarren, überhaupt die Rhythmik hatten es mir angetan. Und zwar bis heute. Die Folk-, Blues- und Rock-Elemente sind doch irgendwie zeitlos. Und das Lied ist ein Dokument, wie die DDR damals gerockt hat.