Es gibt Leute, die werfen gern mit fancy Trend-Begriffen um sich. Einer davon ist Radical Candor. Schonungslose Offenheit. Wow, das ist mal ein Kampfbegriff. Es gibt eine ganze Menge international operierender Firmen, die sich gern mit genau diesem Begriff schmücken, um damit zu sagen, dass man in ihren Reihen alles sagen kann. Glückwunsch, genau das erwarte ich eigentlich auch. Aber die Frage, die sich mir stellt, ist eigentlich: Übertreiben es da nicht manche Leute und verfallen dabei in dumpfes Geschrei? Das hat nichts mit Offenheit zu tun, es ist einfach nur dumpf.
Woher kommt eigentlich dieses Radical Candor?
Meine Fresse, was wurde ich schon mit diesem Kampfbegriff drangsaliert. „Los, sag mir deine Meinung ins Gesicht“. Aber kann ich dann wirklich zu einem Menschen, den ich nicht mag und den ich für kognitiv zu leicht motorisiert halte, sagen: „Aus deinem dämlichen Schädel kommt auch nur Dünnschiss“? Wäre das eine Form von Radical Candor? Ich bin skeptisch. Denn eigentlich bedeutet es etwas anderes. Eingeführt hat es Kim Malone Scott, die frühere Managerin von Apple und Google.
Das Ganze kommt aus der Unternehmenspolitik. Wenn die Herrschaften aus der Teppichetage so unverschämt sind und nur so tun, als würden sie sich für ihre Mitarbeiter interessieren, darf man als Mitarbeiter gern das Visier öffnen und brutal ehrlich sagen, dass einem das nicht passt. Wenn die Teppichetage aber auch mal die Hosen runter lässt und sich auch mal persönlich um ihre Mitarbeiter kümmert und ihnen klares, deutliches Feedback gibt, dann ist das Radical Candor. Beispiel?
- Unverschämtheit: Wir müssen auf die Zahlen schauen. Deshalb fiel die Wahl auf den Standort XYZ aufgrund des – sagen wir mal – attraktiven Lohngefüges leicht. In Zukunft müssen unsere Einnahmen kräftiger steigen als unsere Aufgaben. Aber wir erwarten, dass ihr euch voll reinhängt.
- Radical Candor: In den vergangenen Jahren haben wir alle zusammen vieles geschafft. Aber es ging auch einiges schief. Und zwar 1., 2., 3… Das versuche ich nun, auszuräumen. Und ich setze mich persönlich dafür ein, dass es in absehbarer Zeit wieder aufwärts geht.
Keine Sorge, das ist kein Manager-Lehrgang. Aber ich höre so viel zu Radical Candor, da bleibt es nun mal nicht aus, dass ich mich dazu mal äußern muss. Ich höre immer wieder, wenn man mal irgendwelchen Menschen mit „Manager“ im Titel zuhört, irgendwelche Aussagen und dazwischen – als ob es nicht reinpasst – irgendwas von wegen „Ach, übrigens: Radical Candor“. Den Begriff gibt es seit 2017, als da dieses eine Buch herauskam. Und je länger das her ist, desto häufiger hört man davon.
Aber muss ich gleich ein Arschloch sein?
Ich habe es in meinem Leben häufiger erlebt: Besser ist es, Klartext zu reden. Ich kenne auch Leute, die Bossing erlebt haben. Auch nicht so richtig führungsstark. So wie Ex-Präsident Trump, der eigentlich meistens komisches Zeug erzählt hatte, dem aber die Entwicklung der Vereinigten Staaten ziemlich egal war. Nein, wer Klartext redet, ist nicht gleich ein Arschloch. Aber zwischen beiden Fraktionen sind die Grenzen fließend. Und man muss aufpassen, dass man fair bleibt.
Mir bringt es nichts, wenn mein Chef alles mögliche in sich hinein frisst. Glaubt mir, sowas kennt ihr alle. Die Gefahr, die dann besteht ist doch, dass dann eben Entscheidungen zur Entwicklung und all das, was noch dran hängt, auch einfach mal liegen bleiben oder nicht passieren. Ich erwarte von meinem Chef, dass er Stellung bezieht, zur Verteidigung seiner Abteilung sich vor sie stellt und auch bei Fehlern konsequent ist. Gerade bei letzterem muss man dann nicht das große Maul haben.
Und genau das bedeutet doch am Ende Radical Candor, oder? Was interessiert es mich, wenn irgendeiner aus der Teppichetage irgendwas von „Klartext“ erzählt, es dann aber trotzdem nicht so meint? Gleichwohl erreicht man doch als Mitarbeiter wesentlich mehr, wenn man zwar die Dinge offen beim Namen nennt, aber dennoch die gute Erziehung nie vergisst. Ich kann mir tausend Male sagen, dass XYZ in der Teppichetage doof ist. Ich sollte es eben nicht exakt so aussprechen.
Das Zauberwort heißt doch hier am Ende: Fairness. Wir können es wohl alle sein lassen, möglichst aggressiv herum zu pöbeln, wenn uns irgendwas nicht passt. Und Menschen in leitenden Funktionen können auch sehr gut zuhören, sich auf Augenhöhe begeben, auf Unklarheiten verzichten. Dann können wir nämlich auch das ganze Wattebausch-Geschwurbel sein lassen. Dann könnt ihr eben auch euren Chefs klar aufzeigen, wieso es falsch in der Firma läuft.
Dieses ganze Taktieren auf der einen Seite und all das Gepöbel auf der anderen Seite: Beides hat uns gesellschaftlich und wirtschaftlich dahin gebracht, wo wir sind. Wir haben eine gespaltene Gesellschaft. Und ein Unternehmen ist immer ein Abbild der Gesellschaft. Und deshalb sind die Wortedrechsler und Güllebrüller eher unangebracht. Dem Menschen oben sage ich dann halt: „Ich mag dich aus diesen und jenen Gründen nicht“. Und das ist dann mein Radical Candor. Was ist eures?