„Und was ist mit XYZ?“: Whataboutism ist eine gefährliche Nummer. Gerade in der heutigen Zeit ist man gern dabei, Leid gegen Leid gegeneinander auszuspielen. Sind es einerseits obdachlose Deutsche, die gegen geflüchtete Muslime ausgespielt werden einerseits, so sind es in Seenot geratene Afrikaner, die gegen thailändische Fußballer ausgespielt werden andererseits. Was ist denn nur mit der Welt los?
Whataboutism – Was ist das?
Der Begriff „Whatsaboutism“ tauchte in den Neunzigern auf. Er ist die Fortführung des Siebziger-Jahre-Begriffs „Whataboutery“. Er beschreibt die gängige Praxis, eine Anschuldigung oder etwas, das angeprangert wird, mit einer „Und was ist mit…“-Gegenfrage zu beantworten. Berühmt wurde das Ganze durch das amerikanische Anprangern der Verfolgung der sowjetischen Juden, das mit „Und bei euch lynchen sie die Schwarzen“ beantwortet wurde.
Es geht beim Whataboutism um Relativierung, um Gegenvorwürfe, um alles mögliche. Aber es findet keine sachliche Debatte mehr statt. Man kann schon sagen, dass hier ein gewaltiges Stück Propaganda betrieben wird. „Die anderen sind viel schlimmer“ ist ja viel einfacher, statt dass man da sachlich bleibt. Denn dann müsste man sich ja auch mit anderen Ansichten beschäftigen. Das rhetorische Mittel „Und was ist mit…“ ist ein beliebtes Element für alles mögliche.
Flüchtlinge gegen Obdachlose
Wie oft habe ich das mitbekommen, dass Flüchtlinge gegen Obdachlose ausgespielt wurden? „Für die Flüchtlinge gibt es Essen, Unterkünfte usw., aber für die deutschen Obdachlosen gibt es wieder mal nichts“, hieß es da immer. Viele – auch in meinem Bekanntenkreis – waren der Ansicht, dass Flüchtlinge ungerechtfertigt bevorzugt wurden. Da gab es Sondersendungen von der Balkanroute, aber in den sozialen Netzwerken wurde angemerkt, dass sich niemand für die Obdachlosen interessiert.
Der Whatsaboutism schlägt hier zu. Frei nach dem Motto „Die Flüchtlinge werden hofiert, aber was ist mit unseren Armen?“ oder so ähnlich. Das ist ehrlich gesagt unterstes Niveau, so verständlich das Ganze ist. Denn man spielt die Bedürftigen untereinander aus. Obdachlosigkeit gibt es nun mal. Und es gibt sie aus den verschiedensten Gründen. Es ist schlimm, dass ein Land wie Deutschland überhaupt so ein Problem hat. Dafür können aber die Flüchtlinge nichts.
Am Ende ist es so, dass vielen die Obdachlosen sonst ziemlich am Allerwertesten vorbei gehen. Sie sind Mittel zum Zweck geworden. Und das ist schäbig und gehört sich nicht. Bedürftigkeit muss bekämpft werden. Die Ursachen müssen ermittelt und bekämpft werden. Das schafft man nicht, indem man über gute Bedürftige und schlechte Bedürftige redet. Wem hilft denn das?
Ertrinkende Afrikaner gegen thailändische Nachwuchs-Fußballer
Das ist auch so ein Parade-Beispiel zum Thema Whataboutism. Wir alle erfahren immer wieder von sehr abenteuerlichen Jollen, die von Afrika aus völlig überladen Richtung Europa treiben. Die Seenot-Hilfe sammelt viele dieser afrikanischen Flüchtlinge ein und brachte sie bisher nach Südeuropa. Nun werden diese Hilfsorganisationen allerdings unter Strafe gestellt und die Flüchtlinge nicht eingelassen.
Im Gegensatz dazu fieberte die ganze Welt mit den thailändischen Nachwuchs-Kickern mit, die in einer Höhle festsaßen. Spezialtaucher wurden rekrutiert, Sondersendungen wurden ausgestrahlt und die Jungs wie Teenie-Stars im Fernsehen herumgereicht. Und schon sind wir wieder beim ekligen Whataboutism. Denn es heißt nun: „Die Flüchtlinge auf dem Mittelmeer interessieren niemanden mehr, dafür die Jungs in Thailand.“
Sorry, das ist genau so armselig wie der Whataboutism weiter oben. Die Kicker können nichts dafür, dass die Flüchtlinge auf dem Mittelmeer nicht mehr so eine mediale Anerkennung bekommen. Und wenn, würde es wieder heißen, dass die „Asyltouristen“ die „Stars“ der Tagesschau wären, während in Thailand um Menschenleben gekämpft wird. Hier wird auch wieder die rechte Tasche gegen die linke Tasche ausgespielt.
Whataboutism stumpft ab
Was unterscheidet den Menschen von eigentlich allen Tieren? Richtig, es ist die Fähigkeit zur Empathie. Man kann sich in andere Menschen einfühlen. Man rückt im Elend zusammen. Und dann ist es unterm Strich egal, woher das Elend kommt und wer die Elenden sind. Das kann man doch nicht auseinander puzzlen. Aber genau das macht der Whataboutism, indem die einen Elenden gegen die anderen Elenden ausgespielt werden.
Ja, den Vorwurf des Ausspielens habe ich nun oft genug gebracht. Aber kann man das denn anders nennen? Und was noch viel schlimmer ist: Durch „Und was ist mit…?“ macht man für andere dann das Elend weniger elendig. Mit anderen Worten: „Na und, da ersaufen halt ein paar im Mittelmeer“ oder ähnliches. Ja, das ist drastisch. Aber irgendwie kommt mir das genau so vor.
Damit schaffen wir es, dass wir uns mit dem Whataboutism die Fähigkeit weg rasieren, empathisch zu sein. Je mehr auf diese Art und Weise argumentiert wird, desto nebulöser werden Nöte. Und die Betroffenen? Ach, die gibt es ja auch noch. Aber was machen wir mit denen? Wirklich brauchen kann die niemand. Aber sie sind gut als Argumentationssprungbrett. Und das nervt mich gewaltig.
Horst Seehofer und die Satiriker
Bundesheimatschützer Horst Seehofer brachte ja die abscheuliche Verballhornung, dass ausgerechnet an seinem 69. Geburtstag 69 afghanische Flüchtlinge abgeschoben wurden. Es klang so, als hätte er zum Geburtstag einen Schlemmerkorb aus dem örtlichen Supermarkt mit 69 Kerzen bekommen. Eine Kerze ist mittlerweile aus, weil sich ein abgeschobener Flüchtling umbrachte. Ich hörte dazu: „Na, aber hoffentlich nicht hier.“ – Vielleicht war das als Satire gedacht.
Satire geht aber anders. Schauen Sie sich mal die Uthoffs, Böhmermanns und Welkes dieser Republik an. Satiriker, bei denen das Lachen im Hals stecken bleibt und die uns daran erinnern, dass wir nicht weiter abstumpfen dürfen. Und immer öfter springen Satiriker zur Seite und helfen. Wie Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf, die ein Seenot-Rettungsschiff beim juristischen Streit mit einer knappen halben Million unterstützen, die sie mit Spenden eingesammelt haben.
Mit Whataboutism schaffen wir es nicht, Leid auf dieser Welt zu lindern. Damit werden auch keine Lösungen erarbeitet. Während Seehofer noch lacht und man sich mit „Und was ist mit…?“ bewirft, helfen Satiriker schon mal. Momentan ist die Welt ziemlich turbulent, aber die Menschheit ist nicht am Ende. Wenn wir aufhören würden, Gruppen gegeneinander auszuspielen, wären wir ein ganzes Stück weiter. Wenn wir nicht zu abgestumpft dafür sind.