Was heißt Wilder Osten? Es wird Leute geben, die über diesen Abwasch der Woche schimpfen werden. Aber das ist es mir wert. Da bin ich mir absolut sicher. Denn wir müssen uns mal ernsthaft über den Osten Deutschlands unterhalten. Das Ganze wird im Internet als #DerOstenBleibtBunt abgeheftet. Und doch ist es ziemlich viel mehr.
Mein wilder Osten
Ich wuchs in der DDR auf. Das hatte zur Folge, dass ich eine unbeschwerte und durchorganisierte Kindheit hatte. Wer ehrlich ist, wird das auch so sehen. Die ersten Jahre waren bestimmt durch Kinderkrippe und Kindergarten und von Kindergeburtstagen.
Und dann kam ich in die Schule. Für uns war es völlig normal, dass es einen Fahnenappell gab und es die Pioniere und später die FDJ gab. Wir hatten ja nichts auszustehen. Wir lernten Deutsch, Mathe, Chemie, Physik, Englisch und Russisch. Man trieb Sport und engagierte sich.
Im Radio wurden wir mit dem Butzemannhaus unterhalten. Im Fernsehen gab es zumindest für mich neben dem DDR-Fernsehen auch die ARD. Im Sommer ging es ins Ferienlager, sonst gab es Radtouren, Fußballspiele und auch irgendwann die ersten Schwärmereien und Jugendclubs. Alles normal. Und doch änderte sich etwas.
Wir waren das Volk
Irgendwann passierte es, dass einer aus meiner Klasse hier und da dienstags mit „Treffern“ im Gesicht in die Schule kam. Er war „Bullen klatschen“, erklärte er. Das war der Beginn der Montagsdemos. Zuhause bekam ich mit, dass es immer schwerer wurde, ein sinnvolles Mittagessen auf den Tisch zu bringen.
Was ich nicht wusste: Da mein Vater ein von Grund auf ehrlicher und überzeugt liberaler Mensch war, ging es nicht mehr beruflich weiter. Und so gab es einen Ausreiseantrag. Meine Mutter hatte auch bloß genug von dem System mit all seinen Unzulänglichkeiten. Mir fiel halt auf, dass etwas nicht stimmte, als die Schule nicht mal mehr Kreide hatte.
Irgendwann waren wir auch auf der Montagsdemo. Man spürte plötzlich: Es geht ein Ruck durch den Arbeiter-und-Bauern-Staat. „Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer“ war auf einmal ein bitterböser Witz. Montags wusste man: Wir lassen uns nicht mehr einlullen, denn nun waren wir das Volk.
Jeder, der aufmerksam in der DDR lebte, wusste, dass das Land den bevorstehenden Winter ohne Hilfe nicht überstehen konnte. Und dennoch wurde der 5-Jahresplan erneut übererfüllt? Das konnte so nicht weitergehen. Man wollte ein besseres Land. Aber ich denke, die meisten wollten eine bessere DDR.
Von blühenden Landschaften allüberall
Als die Grenze gefallen war, kamen sie alle. Im Nachhinein kommt man nicht umhin, an Rattenfänger zu denken. Kanzler Kohl, der die bevorstehende Bundestagswahl ohne die Wende nicht überlebt hätte, versprach blühende Landschaften. Und der Osten befand sich im siebten Himmel.
Ich absolvierte meine Lehre als Industriemechaniker. Was wurde nicht alles über den Beruf erzählt! Am Ende habe ich während der Ausbildung gelernt, den Schneidbrenner zu bedienen und das marode Chemiewerk zu verschrotten, das den Leipziger Südraum verpestet hatte. Nach der Lehre war ich dann eben Zeitarbeiter für westdeutsche Baufirmen, die den Osten umbauten.
Die blühenden Landschaften dauern noch, dachte man sich bei seinen 8 oder 10 Mark Stundenlohn. Diese Ausweglosigkeit führte dazu, dass ich mich in eine Drückerkolonne hinein quatschen ließ. Nun wurde ich von denen, die es immer am besten wussten, erst richtig ausgenommen. Danach ging ich wieder in die Zeitarbeit, bis es gesundheitlich nicht mehr ging.
Was wilder Osten hieß, wurde an harte Geschäftemacher verschenkt und von ihnen ausgeweidet. Teuer wurde viel mit westlicher Steuerung und Billiglöhnern aus dem Osten saniert. Wer in den Osten ging, erhielt gar eine Buschzulage. Und ich bekam mit, wie sehr man sich hier verscheißert vorkam.
Aber ihr habt doch alles!
Aber was regen wir dummen Ossis uns eigentlich auf? Wir wurden Teil des „gelobten Landes“, wie ein im Ruhrpott gescheiterter Wirtschafter während meiner zweiten Ausbildung zum Fachinformatiker den „goldenen Westen“ nannte. Das war so die Zeit, als nach 2000 klar wurde, dass die Flüchtlinge vom Balkan immernoch da waren. Nur um das zeitlich einzuordnen.
Ich fing dann in einem Call Center an und lieferte Support für HP. Damals wie heute für komplexe Mail-Systeme und Hochverfügbarkeitslösungen. Nebenbei erfuhr ich, dass Kollegen mit ähnlicher Ausbildung und Erfahrung westlich vom Harz mindestens das doppelte Einkommen haben. Und ehrlich: Allem Anschein nach ist das über alle Branchen hinweg immernoch so.
Dafür hat sich der Osten in Sachen Mieten dem Westen deutlich angenähert. Das Stück Butter wird auch im Osten jedes Jahr teurer. Und die blühenden Landschaften sind enorm verwelkt. Und das nur in den Städten. Auf dem Land ist es noch viel schlimmer. Denn dort fühlen sich die Menschen regelrecht vergessen.
… dann macht ihr etwas falsch
Wenn die Menschen aus Baden-Württemberg oder Niedersachsen aufgehört haben, über die Menschen in Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern zu lachen, weil die sich unter Wert verkaufen, kommt meistens die Erkenntnis: „Ihr macht da was falsch“. Na klar. Der dumme Ossi eben. Aber ist das so? Haben wir es selbst in der Hand?
Wilder Osten heißt eben auch, dass Firmen hier Niederlassungen gründen. Im Leipziger Norden haben BMW und Porsche gebaut. Die Unternehmen wurden regelrecht mit Geld beworfen. Und dann haben die nur Zeitarbeiter geholt. Der Oberbürgermeister hatte das auch noch als Leistung gewürdigt.
Es gibt zu wenige Unternehmen, die im Osten gegründet wurden und noch existieren. Gerade große Firmen sind dann nur eher Töchter. Und zählen eben nicht. Das hätte man auf politischer Ebene ändern können. Man hätte Identität schaffen können. Aber das passte nicht in den Kram.
Wilder Osten hieß auch Abwracken
Guckt jemand danach, was wilder Osten auch bedeuten kann, dann landet man schnell bei der Ausweglosigkeit. Großbetriebe wurden abgewrackt, Menschen wanderten ab, Schulen schlossen, der Bus wurde eingestellt. Was wilder Osten genannt wurde, beherbergte längst nicht nur Gewinner. Viele trieb das Ganze in die Drogenabhängigkeit.
Klar, man hätte nach Bayern oder so gehen können. Aber was sollte man dort? Man war eh Mensch zweiter Klasse. Und irgendwie blieb das so bestehen. Und woran sollen sich die Menschen dann orientieren? Dann kommen Sprücheklopfer der blauen Partei an, und die kommen wieder aus dem gelobten Land. Die wissen, wie man manipuliert.
In abgewrackten Landstrichen lässt sich gern von „Alternativen für Deutschland“ reden. Die Menschen kriegen dann feuchte Augen. Und nebenbei stachelt man die Radikalen an, die es auch woanders gibt. Nur fiel das hier auf fruchtbaren Boden. Und vor dem verschließen Landesregierungen dann auch noch die Augen.
Ossi und Wessi: Gute Deutsche, schlechte Deutsche
Ich habe den Eindruck, als ob nach wie vor die ehemalige Grenze und Mauer wie eine unsichtbare Membran vorhanden sind. Es ist nach wie vor der Fall, dass man Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen als wilder Osten bezeichnet. Wie sonst kommt es, dass man immernoch von „neuen Bundesländern“ erzählt?
Ich habe oft genug zu den Verhältnissen speziell hier in Sachsen auf Twitter gelesen. Und vor allem von Menschen, denen ich unterstelle, noch nie einen Fuß hierher gesetzt zu haben. Die haben keine Ahnung, welche Entbehrungen die Menschen hier erleben mussten. Aber diese Leute können die Worte gut drechseln. Und sie haben eine große Gefolgschaft und können damit Meinung transportieren.
Ihrer Meinung nach ist der Osten ein „Krisengebiet“, das sich dieses radikale Volk selbst geschaffen hat. Besonders Sachsen ist da flügge. Immer wieder heißt es, man müsse hierher Blauhelmtruppen schicken. Das meinen Menschen, die keine Ahnung von dem haben, was wilder Osten heißt.
Welcome to the Jungle
Vor ca. 30 Jahren hatte die US-amerikanische Rockband Guns’n’Roses das Lied „Welcome to the Jungle“ am Start, in der die düstere Seite von Los Angeles mit all den Drogen und der Gewalt und der Hoffnungslosigkeit geschildert wird. „Willkommen im Dschungel, hier wirst du sterben!“ ist so die zentrale Aussage.
Hinter all den Hochglanz-Broschüren über die „auferstandenen“ Städte im Osten versteckt sich der Dschungel. Mit einem Call Center-Mindestlohn oder einer geringfügigen Bezahlung bei einer aus dem Westen stammenden Bäckerei-Kette kann man leider nicht in so ein hochwertig gebautes Gebäude einziehen.
Der Osten würde diese Bauten brauchen, heißt es immer. Und es müsse halt so sein, dass unser wilder Osten bei der Entwicklung dem „gelobten Land“ hinterher hinkt. Nein, muss es nicht. Deshalb fordert die sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration Petra Köpping in einer provokanten Streitschrift die vollständige Integration des Ostens.
Das Erbe der friedlichen Revolution
Wenn ich mir so überlege, was es da an schlimmen Geschichten über Sachsen gibt, dann bleibt mir wirklich die Spucke weg. Es ist ja nicht nur so, dass es da „Skinheads Sächsische Schweiz“ gibt oder in Ku-Klux-Klan-Manier irgendwelche Rituale im Leipziger Südraum veranstaltet wurden.
Es sind auch die ganzen militanten Linksradikalen, die zum Teil hier in Sachsen leben, zum Teil aber auch in Sachsen Krawalltourismus immer wieder anreisen. Es ist nachgewiesen, dass beide radikale Gruppen und die Anarchisten zum Teil davon leben, dass sie Anhänger aus ganz Deutschland und von noch weiter her anziehen, die dann hier Chaos und Gewalt verbreiten.
Freunde, das ist nicht das Erbe der friedlichen Revolution. Das war nicht das, was am Ende der DDR durch die Pfarrer Christian Führer und Christoph Wonneberger initiiert wurde. Egal, wer von den genannten Truppen: Ihr seid nicht Sachsen, nicht der Osten, und ihr seid nicht das Volk. Und ihr habt auch nichts mit der Wende und der friedlichen Revolution zu tun. Dieses Erbe wurde genug beschädigt.
Aber wenn man eben nur am Futternapf und nicht an der feinen Tafel sitzt, ist so eine Entwicklung nicht ganz ungewöhnlich. So, wie das griechische Volk gegen die fehlerhafte Integration ihres Landes in die Eurozone protestiert haben, so protestiert man hier auch gegen solche Entwicklungen. Das Motto lautet: Ich will auch mal.
Neoliberalismus hilft nicht weiter
Das, was wilder Osten heißt, war der Spielplatz für neoliberale Experimente. Die Firmen wurden abgewickelt und verschenkt, hunderttausende Menschen verloren ihre ehemals wertgeschätzte Arbeit und mussten von vorn unter Wert noch einmal neu anfangen und wurden dafür auch noch ausgelacht. Die blühenden Landschaften, die Kohl dem Osten versprochen hatte, waren dem Westen vorbehalten.
Im Ruhrgebiet, das eine ähnliche krasse Zumutung wie der Osten erfuhr, nahm man die Menschen mit. Hierzulande hieß es immer, dass die Ossis sich gefälligst nicht so anstellen sollen. Das förderte den Frust. Und die Rechtsradikalen, die es schon zur Wende hier gab, erfuhren Zulauf. Die leergefegten Regionen wurden nun von ihnen besetzt. Denn hier können sie ja tun und lassen, was sie wollen. Es interessiert ja niemanden.
Das britische Duo Erasure brachte Ende der Achtziger das beeindruckende „The Circus“ auf den Markt, in welchem sie sich darüber aufregten, wie mit harter Hand halb Großbritannien auf den Kopf gestellt wurde. So ungefähr ist das auch hier gewesen. Immer noch eine weitere Zumutung. Und dazu das Gelächter aus anderen Regionen Deutschlands. Dieser Neoliberalismus hilft niemandem.
Vom Futternapf an die Tafel
Es muss endlich passieren, dass der Osten mit an die Tafel kommt. Mit anderen Worten: Den Osten darf man gern ernst nehmen. Ich glaube, im Osten haben viele das durchaus schmerzhafte Gefühl, dass man immernoch nicht ernst genommen wird. Das rechtfertigt zwar keinen Rechtsradikalismus, erklärt ihn aber zumindest zum Teil.
Und mal davon abgesehen, gab es auch immer wieder abscheuliche Berichte über Rechtsradikale in anderen Teilen Deutschlands. „Ja, aber nicht so schlimm wie bei euch“ – Dazu sage ich: Im Osten sind aber auch die Verhältnisse schlimmer. Wie gesagt, das darf keine Rechtfertigung sein, aber eine teilweise Erklärung. Sie ist nicht schön, aber nach Ansicht einiger Experten eine durchaus valide.
Selbstverständlich ist der Osten bunt. Und Sachsen ist nicht rechtsradikal. Aber wenn man das, was man wilder Osten nennt, nicht endlich ernst nimmt, driftet dieser ab. Und das wird dann zum echten Problem. Sich einfach nur die possierlichen Tierchen (= die dummen Ossis) zu halten, wird zu nichts führen.
Natürlich ist das auch die Aufgabe der ostdeutschen Ministerpräsidenten. Und allen voran Michael Kretschmer. Es gibt viel aufzuarbeiten. Und vielleicht findet man so auch die Antwort auf die Frage, wieso es solche Krawalle wie in Chemnitz gab. Trau dich Deutschland, es ist vielleicht schmerzhaft, aber notwendig.
Auch über ein Jahr später noch ein toller, lesenswerter Artikel! Beachtenswert, wie es dir gelingt, auf ganzer Länge (!) nicht zu langweilen und „den Osten zu erklären“ – wirklich toll!
Ich hab mir schon kurz nach dem Anschluss gedacht: ein paar Warnungen hätten unsere Regierenden den Ossis ja schon mitgeben können! Schließlich waren Verlautbarungen von oben im Osten normal – es hätte sicher geholfen, wenn die Wessi-Politiker-Riege sich dazu hätte durchringen können.
Also nicht nur „blühende Landschaften“ versprechen, sondern auch deutlich, zur Not im TV sagen: Passt bloß auf! Freiheit hat auch eine dunkle Seite! Nicht jeder, der Euch jetzt erzählt, was Ihr braucht, um „normaler Bundesbürger“ zu sein, sagt die Wahrheit, sondern will euch vielleicht nur was verkaufen, wass ihr weder braucht noch haben müsst!
Ist nicht passiert – und das ist eine wirkliche Sünde gewesen! Es tut mir leid und ich finde, allen Wessis, die es mit wachen Augen bemerkt haben, sollte es leid tun.
Hallo Claudia,
Danke für deinen Kommentar. Und schön, dass der Sinn dieses Artikels klar wurde. Ich finde, wir im Osten sollten weg vom Jammern. Und das geht nur, wenn man den Osten ernst nimmt. Und die Mär der blühenden Landschaften hätte durchaus jemand aufklären müssen. Nun war das halt so passiert, wie es passiert war. Nun wird es Zeit für ein Umdenken.