Ein paar Monate lang haben wir die Pandemie auch in Deutschland. Jeder ist, soweit möglich, ins irgendwie geartete Home Office gewechselt. Eine neue Leitkultur? Irgendwie wirkt es so, als ob viele Unternehmen darin ihr Seelenheil sehen. Es gibt gar Firmen, die sagen, dass sie jetzt erst profitabel arbeiten könnten, seitdem die Mitarbeiter nicht mehr im Büro hocken. Als ob die Mitarbeiter sonst nur Kostenfaktoren seien, die ihren Chefs die Luft wegatmen. Darum müssen wir uns mal wieder über die ganze Nummer unterhalten.
Home Office – Ist das nicht zu viel des Guten?
Meine derzeitige Arbeitssituation sieht nach wie vor so aus wie seit 5 Monaten: Ich habe den Schreibtisch meiner Tochter in ihrem Zimmer okkupiert, dort ein Notebook aus der Firma aufgebaut, einen enorm wackeligen Kinder-Bürostuhl durch einen besseren ersetzt, aber immernoch einen viel zu kleinen und zu niedrigen Schreibtisch. Ich sehe das Alles nach wie vor als Notsituation an, weshalb ich den Begriff Pan Office oder Emergency Office besser finde. Aber das ist nur Dialektik.
Nach 5 Monaten ist die SARS-CoV2-Pandemie noch lange nicht im Griff, obwohl die Zahlen lange Zeit danach aussahen. Ein kleines Pflänzchen Hoffnung machte sich breit, dass man dann doch in absehbarer Zeit wieder mit den Kollegen im Großraumbüro zusammentreffen könnte. Nun steigen die Zahlen wieder so an, dass man irgendwie keine Lust mehr dazu hat. So sieht die Leitkultur leider in vielen Firmen aus. Besser keinen Kollegenkontakt, als das Risiko der Ansteckung.
Es gibt Firmen, die ernsthaft Bürokomplexe entmieten, weil sie die Flächen eh nicht mehr brauchen. Ihre Mitarbeiter haben ja das Home Office. Und da frage ich mich, ob das nicht ein bisschen zu viel des Guten ist? Als ob es zu den Werten eines Unternehmens gehört, die Mitarbeiter nach Hause zu verfrachten. Ob die das wollen oder nicht. Mal abgesehen davon, dass es heutzutage außer bei der eigentlichen Tätigkeit noch gewaltige Einschränkungen bei der Technik gibt.
Es wirkt so, als ob diverse Unternehmen nur darauf gewartet haben, sich Büroflächen zu entledigen. Jetzt gehe ich nicht so weit, dass ich behaupte, dass das nur aus kapitalistischen Überlegungen heraus geschehen ist. Aber ich gehe so weit, dass ich sage, dass sich das Alles bitter rächten könnte. Denn der Mensch dürfte in den meisten Fällen gar nicht so gestrickt sein, allein vor sich hin zu wurzeln. Insofern muss das nicht gut gehen mit der Leitkultur.
Warum eigentlich Leitkultur?
Ich nenne diesen Weg, Mitarbeiter im Home Office zu belassen, deshalb Leitkultur, weil eine solche immer so etwas wie ein Kompass ist, der das Handeln am Arbeitsplatz vorgibt. Und ja, mir ist klar, dass die Wikipedia den Begriff anders beschreibt. Am Ende heißt es doch in einem Unternehmen, einer Abteilung oder einem Team: Wie wollen wir zusammenarbeiten? Natürlich gibt es ethische Grundsätze und Diskriminierungsverbote am Arbeitsplatz. Das gehört genauso dazu wie die Ausstattung.
Es gibt Menschen, die arbeiten zwar gern im Team zusammen und möchten das auch nicht missen. Deshalb müssen sie dennoch nicht ständig mit Kollegen aufeinander hocken. Andererseits gibt es eben auch Menschen, die immer ihr eigenes Ding durchziehen, aber dann trotzdem nicht allein vor sich hin werkeln wollen. Die Leitkultur, die da zutreffend wäre, ist doch dann, dass auf all diese Belange Rücksicht genommen werden muss. Erst recht in Zeiten wie diesen.
Bei meinem Arbeitgeber ist es momentan so geregelt, dass man zurück ins Büro wechseln kann, wenn man denn möchte. Aber niemand wird dazu gezwungen. Mir scheint, den Lenkern ist völlig klar, dass die meisten Mitarbeiter die Situation nach wie vor als kritisch ansehen. Und nachdem eine der Hauptsäulen bei uns „Employee Satisfaction“ (Mitarbeiterzufriedenheit) heißt, wäre es ein Hohn, wenn sie die Einschätzung der Mitarbeiter mit Füßen treten würden.
Gleichwohl gibt es aber immer wieder in Unternehmen Dinge zu kritisieren. Wirft der Arbeitgeber Zuschüsse für die erhöhten Kosten zuhause über den Zaun? Stehen Vorgesetzte immer für Fragen zur Verfügung und sind über Medien wie Skype oder Teams oder Slack oder Zoom erreichbar? Werden Bedenken gehört, und setzt man sich mit ihnen auseinander? Würde man als Arbeitgeber die ganze Sache mit dem Home Office ernst nehmen, müssen alle Fragen mit „Ja“ beantwortet werden.
Recht auf Home Office?
Irgendwann während der SARS-CoV2-Zusperr-Aktion warf Bundesarbeitsminister Heil den Begriff „Recht auf Home Office“ in die Manege. Es gab Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die das gut und schlecht fanden. Wer als Mitarbeiter das schlecht findet, sieht Probleme wie Isoliertheit, die angeschlagene Gesundheit, das fehlende Wir-Gefühl und vielleicht mangelnde Motivation. Die Arbeitgeber finden das vielleicht schlecht wegen der fehlenden Kontrollmöglichkeit oder so.
Es gibt aber auch jede Menge Menschen, die das gut finden: Unternehmen kündigen – wie gesagt – Büroflächen. Arbeitnehmer können flexibler arbeiten. Der zweimal am Tag stattfindende Arbeitsweg mit Stau, Verspätungen, Umweltbelastungen fällt weg. Die so genannte Work-Life-Balance verbessert sich. Aber das mit dem „Recht auf Home Office“ kommt eben mit einer neuen Version der Leitkultur desselben daher. Und den Gedanken dahinter finde ich gar nicht so schlecht.
Wieso sollte es nicht zur Leitkultur mit „Employee Satisfaction“ gehören, dass sich Arbeitnehmer dann und wann ins Home Office verabschieden? Etwa für Remote-Weiterbildungen oder Handwerker-Besuche oder wegen der kranken Kinder. Ich glaube, wenn von Arbeitnehmern erwartet wird, flexibel zu sein und sich auch in neue Themen einzuarbeiten und auf Abruf bereit zu stehen, dann kann von Arbeitgebern erwartet werden, dass sie flexible Arbeitsmodelle einführen und leben.
Ja, auch das gehört zur Leitkultur in Unternehmen: Jeder muss sich bewegen. Wenn der Arbeitnehmer die Möglichkeit hat, von zuhause aus zu arbeiten, sollten Zuschüsse zu ergonomischen Büromöbeln und vernünftiger Internetanbindung selbstverständlich sein. Wenn Google seinen Mitarbeitern bündelweise Geld über den Zaun wirft mit den Worten „Kauft euch was richtiges, wir wollen euch bis nächstes Jahr nicht mehr sehen“, dann hat das genau damit zu tun.
New Work
Vielerorts hört man derzeit den Begriff „New Work“ wie ein Mantra durch die Gegend wabern. Das hat jetzt nicht unbedingt etwas mit der Pandemie zu tun, sondern wird schon seit einigen Jahren propagiert. Klar, derzeit wird der Begriff wie ein Teil einer völlig neuen Leitkultur gepredigt. Aber das trifft es doch nicht wirklich. Denn darunter versteht man im Allgemeinen werteorientiertes Handeln, Selbstverwirklichung und Teilhabe an der Gesellschaft.
Wie passt das nun zu der Leitkultur namens Home Office? Unternehmen wollen gern mit Forecast und all dem kalkulieren. Risiken gehören da eher nicht dazu. Und es ist nun einmal ein Risiko, wenn man Mitarbeitern einräumen würde, sich selbst zu verwirklichen. Am Ende kommt bei einem Automobilhersteller ein IT-Mitarbeiter auf die Idee, am Fließband zu arbeiten oder umgekehrt. Aber genau dahin wird es sich entwickeln, wenn wir ehrlich sind.
Unternehmensprozesse müssen überdacht werden. Ist ein enges Korsett noch zeitgemäß, in das man einen Mitarbeiter zwängen will? Muss man einem Mitarbeiter nicht etwa die Weiterbildungen ermöglichen, die er für richtig hält? Sollen die Mitarbeiter nicht doch lieber ihre Arbeit selbst organisieren? Es gibt genügend Beispiele, dass das ein erfolgreicher Weg sein kann. Und hier spielt ein Home Office eine zentrale Rolle. Warum? Ganz einfach:
Als Mitarbeiter darf es keine Rolle spielen, wo man arbeitet. Es muss vereinbar sein, dass man seiner Arbeit immer wieder von zuhause aus nachgehen kann. Ohne starre Regeln. Am Ende haben doch Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen etwas davon. Aber weder das Büro noch das Zuhause darf ein in Stein gemeißelter Arbeitsplatz sein. Natürlich werden hier weiter Management-Fehler passieren. Aber man muss es zumindest versuchen. Und dann kann man auch eine neue Leitkultur definieren.