Ich frage mich, ob erst jemand vor die versammelte Presse treten muss und irgendwelche bislang geheim gehaltenen Dinge verkünden muss, die Regierungen betreffen, bevor die Welt aufwacht. Da feiert man am 08.08.2013 den Weltkatzentag im Internet, da mokieren sich die Leute darüber, dass der Wahlkampf zur bevorstehenden Bundestagswahl nicht in Schwung kommt.
Man spricht über das Wetter, aber was da in Sachen Überwachung passiert ist und wie man immer wieder neue Schachzüge zur Verharmlosung macht, das geht vor lauter Deutschland-Glückseligkeit völlig unter. Sogar der Verkauf des Hauses in Großburgwedel von Ex-Bundespräsident Christian Wulff ist aufsehenerregender als die Tatsache, dass Geheimdienste ganzheitlich Daten abgreifen. Warum ist das so?
Der Große Bruder sieht dich!
So prangte es auf Plakaten in George Orwells wegweisenden und dystopischen Roman „1984“. Eine der Grundaussagen war: Der „große Bruder“ überwacht nicht jeden, aber man kann nie sicher sein, ob man nicht doch mit überwacht wird. Es war in dem Roman sogar verdächtig, wenn man ein Tagebuch führt. Dystopie ist eine Anti-Utopie. Und mit „1984“ hat George Orwell gemahnt, dass Totalüberwachung – wie sie im Roman noch als Fiktion beschrieben ist – der Untergang einer freien Welt ist.
Der im Roman beschriebene „Teleschirm“ vom „Ministerium für Wahrheit“ könnte durchaus Realität werden. Im Internet ist er ja schon Realität. Die Schlagworte hierzu heißen PRISM, Tempora oder XKeyScore. Und das „Ministerium für Wahrheit“ ist das, was NSA, GCHQ oder Bundesnachrichtendienst darstellen. Den Teleschirm kann man nie komplett abschalten, heißt es im Roman. Man wird dort immer mit Informationen berieselt und in der Gegenrichtung könnte jedes gesprochene Wort und jede Bewegung an das Ministerium für Wahrheit übermittelt werden. Es muss nichts übermittelt werden, aber mit dem Teleschirm ist das Ministerium für Wahrheit jederzeit dazu in der Lage.
So ähnlich ist das auch mit der NSA der realen Welt im hier und jetzt. Sie müssen nicht überwachen. Aber sie sind dazu in der Lage. Sie müssen nichts speichern und auswerten, aber sie können es. Sascha Ostermeier hat in Caschys Blog ein paar Zahlen präsentiert. Die NSA soll angeblich „nur“ 1,6% des täglichen Internetverkehrs überhaupt überwachen. Und angeblich nur 0,025% des abgefangenen Verkehrs wird untersucht, was dann 0,00004% des gesamten Verkehrs bedeutet.
Na, da ist doch alles in bester Ordnung, oder? Das betrifft doch so gut wie niemanden. Richtig? Falsch! Wenn man so sein eigenes Verhalten im Internet ein wenig beobachtet, stellt man fest: Da werden Videos bei Youtube angeschaut, da laufen über das Internet Videos von Maxdome, da wird Musik über Amazon oder Musicload oder sonstwen heruntergeladen. Dazu noch die Unmassen von Katzenbildern, heruntergeladene Testsoftware, Windows-Updates und so weiter. Das sind alles recht umfangreiche Dinge. Da fallen Emails, Online-Chats, Telefonate und dergleichen so gut wie gar nicht ins Gewicht.
So rein vom Bauchgefühl würde ich sagen: Die postulierten 1,6% sind die Größenordnung von direkter Korrespondenz. Also eben jene Chats, Emails oder Telefonate. Ja, Telefonate. Denn egal, ob jemand das „Festnetz“ nutzt und gar keinen Computer hat, irgendwann auf dem Weg von Anrufer zu Anrufer geht der Weg über das Internet. Deshalb zählt diese Korrespondenz eben auch mit da hinein.
Gut, also wird die Korrespondenz überwacht. Aber was hat das denn mit mir zu tun? So etwas höre und lese ich immer wieder. Das kann ich Ihnen sagen: Stellen Sie sich einmal vor, Oma Erna würde ihrem Enkel eine Email schicken, dass der Rasen im Garten so trocken sei und ihr Enkel mal kommen sollte. Der Enkel antwortet mit: OK, da komme ich am Samstag zum Sprengen.
Den Rasen zu sprengen ist eine durchaus gebräuchliche Beschreibung des Wasser-auf-den-Rasen-Kippens. Das weiß der Deutsche. Aber wissen das auch amerikanische Überwachungsgroßrechner? Die sehen doch nur das Wort „Sprengen“. Und schon steht der Enkel auf der Überwachungsliste. Und das, obwohl er nichts verbotenes gemacht hat.
Anderes Beispiel: Ein Informant ruft einen Journalisten an. Der Informant erzählt: Ich habe einen todsicheren Tipp für dich. Die Sache wird einschlagen wie eine Bombe. Da das Telefonat – wie oben geschrieben – zumindest teilweise über das Internet läuft, stellt die NSA fest, dass von der Rufnummer des Informanten die Begriffe Tod, Bombe und Einschlag verwendet wurden. Das wird dann auch dazu führen, dass der Informant überwacht wird.
Und mir fällt auf, dass ich in dem Artikel die Begriffe Sprengen, Tod, Bombe und Einschlag verwende. Ich hoffe, die NSA hat etwas spannendes zu lesen. Jedenfalls sind die oben genannten 1,6% ausreichend, um nur Email-, Chat- und Telefonkommunikation überhaupt in Betracht zu ziehen. Also ist das Ganze für mich eine reine Beschwichtigung der NSA. Nicht mehr, nicht weniger.
Vera Bunse – Autorin, Journalistin und Bloggerin – vergleicht in ihrem Blog die Überwachungskatastrophe der NSA mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Damals hatten die Medien so sehr vor möglichen Auswirkungen der Explosion des Reaktors gewarnt, dass Leute nicht mehr auf die Straße gingen. Die Rede war damals von „saurem Regen“. Sie vergleicht die Atomwolke (riecht nicht, schmeckt nicht, ist unsichtbar) mit dem Überwachungsprogramm XKeyScore (riecht nicht, schmeckt nicht, ist unsichtbar).
Und sie stellt die Frage, warum es die Medien heutzutage nicht hinbekommen, die Bevölkerung ähnlich zu sensibilisieren. Während sich die Medien darüber aufregen, dass Christian Wulff und seine Frau das Haus in Großburgwedel, für das sie einen Privatkredit bekamen und das für viel Geld sicherheitsgerecht umgebaut wurde, nun mit Gewinn verkaufen. Die Medien machen auf den Weltkatzentag aufmerksam. Und die Medien schreiben riesige Sermons über das Befinden von Bayern-München-Trainer Pep Gardiola.
Zum Abhörskandal kommen sie mit technischen Begriffen um die Ecke, warten damit auf, dass die NSA sich die Katzenbilder bei Facebook ansehen könnte oder die NSA beim Porno-Schauen mitgucken könnte. Das greift aber viel zu kurz, denn es betrifft eben jenes Angebot, bei der Oma den Rasen zu sprengen.
Dafür ist die Bevölkerung eben nicht sensibilisiert. Das muss aber dringend passieren. Denn nur wer aufgeklärt ist, was mit Daten geschehen kann, kann sich auch entsprechend verhalten. Nun daherzukommen und zu behaupten, dass die NSA sich angeblich an gesetzliche Bestimmungen hält und schon gar nicht die Hilfe von Geheimdiensten anderer Länder in Anspruch nimmt, ist schlicht und ergreifend Unsinn.
Um Oma Erna oder ihren Enkel zu überwachen, ist die Hilfe vom Bundesnachrichtendienst gar nicht notwendig. Denn der darf gar nicht in Deutschland selbst überwachen. Und mal davon abgesehen, wenn die NSA schon ein Geheimdienst ist, dann würde der nur gut arbeiten, wenn niemand außerhalb genau weiß, was die dort eigentlich tun. Also welcher gesetzliche Teil der US-Administration hat Einblick in das Tun des Geheimdienstes und kann bestätigen, dass die NSA sich so fair verhält, wie sie selbst angibt? Niemand. Und erst recht kann niemand aus dem Ausland irgendetwas über die NSA behaupten, da sich der Geheimdienst eben so bedeckt halten muss.
Und darum muss konsequent davor gewarnt werden. Ein „Na und? Es ist nur die NSA“ kann nur schädlich sein. Man muss aufklären. Man muss auch denen reinen Wein einschenken, die meinen, nicht im Internet zu sein. Denn der „Teleschirm“ ist keine Utopie von George Orwell.