„Oh, Anneliese, popel nicht!“ – „Sadeness Part 1“ gehört zu den so genannten Agathe-Bauer-Liedern. Lieder, in denen man irgendwas komplett anderes hören kann. Was war das damals für eine Zeit, als Michael Cretu sein Projekt Enigma auf die Menschheit los ließ! Wir haben gerade den Mauerfall nur knapp überlebt, und schon kommt der Sandra-Samurai mit mysteriösen gregorianischen Gesängen um die Ecke und nennt sich auch noch „Curly MC“. Ein richtiges Enigma, ein Rätsel.
Sadeness Part 1 – Ist da nicht ein „E“ zu viel?
Es begab sich aber zu jener Zeit, als das Album „MCMXD a.D.“ auf den Markt geprügelt wurde. Das beginnt mit „The Voice of Enigma“, einer Art Intro, dem die 11-Minuten-Suite „Principles of Lust“ folgt. Darin enthalten eben jenes „Sadeness Part 1“, dort aber ohne „Part 1“. Ich hatte damals die Cassette. Und ich habe mich immer gefragt, ob da nicht eventuell ein „E“ zu viel ist. Denn „Sadness“ ist ein korrektes Wort. Es bedeutet Traurigkeit. Ha! Falsch gedacht.
„Sadeness“ ist ein Wortspiel. Es zielt auf den Marquis de Sade ab, dem Edelmann, wegen dem es den Begriff Sadismus gibt. Grundsätzlich ist also „Sadeness Part 1“ eine Art „Fifty Shades of Grey„, nur halt 4 Minuten lang. Und so ist eben das „E“ nicht zu viel. Ganz nebenbei ist das Lied zwar absolut glanzvoll daher gezaubert und war schon so etwas wie eine Weltsensation. Aber auf „MCMXD a.D.“ gab es durchaus bessere Exemplare von Ambient und New Age. Aber um die geht es hier halt nicht.
Was singen die denn da überhaupt?
Nein, die Mönche singen natürlich nicht von Anneliese, die den Finger aus der Nase nehmen soll. Sie singen „Cum angelis et pueris, fideles inveniamur“. Es werden Psalme rezitiert. Die Mönche, die man da hört, sind der Chor „Capella Antigua München“, der ohne eigenes Wissen in „Sadeness Part 1“ verwendet wurde. Die Psalme, die der Chor singt, sind 24,7 und 8. Sie bedeuten das da auf deutsch:
Ihr Tore, hebt eure Häupter, hebt euch, ihr uralten Pforten, denn es kommt der König der Herrlichkeit! Wer ist dieser König der Herrlichkeit? Der HERR, stark und gewaltig, der HERR, im Kampf gewaltig.
Psalm 24,7 und 8 laut Bible Server
Und alles beginnt mit „Procedamus in pace!“, gefolgt von „In nomine Christi, Amen“. Also irgendwie so etwas wie „Lasset uns in Frieden beginnen“ – „Im Namen Christus, Amen“. Oder so. Ich bin da nicht vom Fach, deshalb sorry für die stockende Übersetzung. Jedenfalls nennt man so etwas „Antiphon“. Das ist ein so genannter Gegengesang. Wenn ihr Übertragungen aus Kirchen seht, wo gesungen wird, habt ihr das bestimmt schon mal gesehen.
Im Text wird auf Lateinisch gefragt, wer denn der Herr ist. Auf Französisch wird diese Frage mit „Sade“ beantwortet. Huch! Gutes wird durch schlechtes ersetzt, Tugend durch Laster. Es wird gefragt, was denn deine Religion ist, deine Anhänger. Wer gegen Gott ist, ist gegen die Menschen. Und Sade wird gefragt, warum Blut zum Vergnügen, Vergnügen ohne Liebe. Sade wird gefragt, ob er gut oder böse sei. Und es wird gefeiert mit „Hosanna“, dem Ausruf der Freude. Verrückt, oder?
Verruchte Schmutzigkeit
Jaja, der Marquis soll sie befehligen und „es“ ihr geben. Das ist das „Sade, dis-moi! Sade, donne-moi!“ als Refrain. Frau Cretu flüstert es dahin. Die deutsche Sängerin Sandra war es. Aber das wusstet ihr ja. Das Lied strotzt vor verruchter Schmutzigkeit. Ich hatte damals irgendwas in diese Richtung mitbekommen. Ich bin da der Meinung, dass „Sadeness Part 1“ ein wunderbares Klang-Experiment war, das sich breit in die Nacht ergießt. Dieses Spiel wurde mit eben jenen „dunklen Machenschaften“ aufgegossen.
Das Lied war ein unfassbarer Erfolg. Jetzt könnte man meinen: Sex sells. Und andererseits könnte man meinen: Was düster ist, ist interessant. Ich würde aber auch behaupten, dass ein großer Teil der Enigma-Fans niemals geahnt hat, was der Inhalt ist. Am Ende ist es ein elektronischer Leckerbissen. Das gesamte Album ist eine einzige Provokation, eine Meditation, eine Reise in den eigenen Geist. Und ob Anneliese dabei popelt oder nicht, ist dabei komplett unerheblich.
Das Lied
Na klar, ihr kennt das Lied alle, oder? Im deutschsprachigen Raum war das Lied die perfekte Untermalung dafür, nach dem Mauerfall ins Unbekannte einzutauchen. Die Großraumdiscos damals waren dafür wie gemalt, alles war dunkel, nur Schwarzlicht war im Einsatz. Und dann „Procedamus in pace!“ – Was für eine Zeit, als „Sadeness Part 1“ sein Unwesen trieb!
Endlich weiß ich, warum da ein „E“ zu viel drin ist! Danke Henning :-)
Cretu war und ist ein begnadeter Musiker und Arrangeur, hat er doch eine Spannbreite von Sandra bis Enigma. Auch seine eigenen Sachen unter dem Namen „Michael Cretu“ sind sehr gelungen. Ich habe von ihm das 80er-Jahre-Album „Die chinesische Mauer“, wo u.a. auch „Samurai“ drauf ist, aber noch viele andere Songs, die sogar noch besser sind. Auch das titelgebende Lied „Die chinesische Mauer“ ist der Hammer.
Enigma tauchte auch im Film auf, und zwar in dem Thriller „Sliver“ – da gab’s „Carly’s Song“ zu hören.
Und zu guter Letzt, wo wir schon beim Thema „Oh Anneliese, popel‘ nicht!“ sind: Hier sind ein paar denkwürdige Verhörer :-D
der Song Sadness‘ ist eine einzige Provokation. Es verwickelt den Hörer in Widersprüche, die nicht unerheblichen Einfluss auf die eigenen Werte, der Weltanschauung haben.