Nachdem ich gestern über „Japanese Whipsers“ von The Cure geschrieben habe, bin ich auf den Geschmack gekommen. Ich möchte einfach über ein weiteres Album der Briten schreiben, und zwar eins, das die Musiklandschaft gehörig durcheinander gewirbelt hat. Es geht um 72 Minuten Melancholie, Düsternis und Zerfall unter dem Titel „Disintegration“.
Es ist wohl eins der besten Alben der Rockgeschichte und zeigt Facetten von Trübsal auf, an die man nicht zu denken gewagt hat. Nie waren The Cure besser als auf diesem Album, nie orchestraler, nie abgründiger. „Disintegration“ ist der Höhepunkt des Schaffens von Robert Smith, Simon Gallup, Porl Thompson, Boris Williams, Roger O’Donnell und (dem nur anwesenden) Laurence Tolhurst.
Disintegration ist faszinierend. Man kann eigentlich nicht über die einzelnen Titel schreiben, man muss das Album als Gesamtwerk beschreiben. Robert Smith war 29, als er einen Großteil des Albums schrieb. Er hatte festgestellt, dass die besten Rockalben entstanden sind, bevor die jeweiligen Autoren 30 waren. Und da wollte er gleichziehen. Er wollte weg vom schnöden Pop des Vorgängers „Kiss me! Kiss me! Kiss me!“, das unter anderem das immernoch fantastische „Just like heaven“ (KLICK) als Single hervorbrachte.
Und so entstand mit „Disintegration“ ein Album, über das die Plattenfirma Fiction Records gesagt haben soll, dass dies der „kommerzielle Selbstmord“ werden würde. Stattdessen wurde das Album ein Welthit im Ganzen. Und die 12 Lieder sind in die Cure-Geschichte und die 4 Singles in die Rock-Geschichte eingegangen.
„Disintegration“ ist getragen von dicken, fetten Keyboard-Teppichen, finsteren Melodien, langsamen Schlagzeugen und introvertierten, schwarzmalenden Texten. Das geht schon los mit dem phänomenalen Eröffnungshymnus „Plainsong“ (Einfaches Lied). Das Album beginnt mit einem Windspiel, in das ohne Vorwarnung und brachial und kompromisslos ein unheimlicher Erguss aus Synthesizern und Gitarren hereinbricht. Erzählt wird über die Angst, den anderen plötzlich zu verlieren. Dabei ist es nur die Melancholie, die der Regen bringt.
Es folgt die grandiose Single „Pictures of you“, das wegen eines Feuers in Robert Smiths Haus entstand. Bei der Überprüfung der Überreste fiel ihm sein Portemonnaie in die Hand, in welchem er Fotos seiner Frau bei sich trug. Das Lied ist nach wie vor eins der bekanntesten The Cure Stücke. Abgerundet wird diese erste Sektion mit „Closedown“, einem Lied darüber, dass dem Protagonisten die Zeit fehlt, sein Herz mit Liebe zu füllen.
Daran schließt sich das eigentlich einzig optimistische Lied des Albums, der „Lovesong“. Robert Smith hat lange Jahre gebraucht, um diese Worte zu finden, es ist das „Hochzeitsgeschenk“ an seine Frau. Trotz weinerlichem Gesang und traurig verstimmten Gitarren, ist das Lied optimistisch. Und über das Lied an sich wird gesagt, es passt zwar überhaupt nicht auf „Disintegration“, aber das Album wäre nicht dasselbe ohne das Lied.
„Last Dance“ ist ein sphärisches Meisterwerk über das Älterwerden. Es scheint selbstreflektierend zu sein. Und es ist ein Anti-Weihnachtslied. Die Lyrik wird durch die weinerliche Stimme von Robert Smith grandios untermalt. Daran schließt sich das weltweit bekannte „Lullaby“ (Schlaflied). Es geht um Alpträume, um die Angst vor dem Einschlafen, um die Sorge, nicht mehr aufzuwachen. Arpeggios und rhythmische Gitarren dominieren das Werk.
Den nächsten fulminanten Höhepunkt bietet das zerstörerische „Fascination Street“. Das Lied erzählt darüber, hinaus auf die Straße der Faszination zu gehen und zu tanzen, obwohl alles vorbei ist. Die Endzeitstimmung des Meisterwerks wird unterstützt durch wüste Gitarren, einem nervösen Schlagzeug und von einem grollenden und dominierenden Bass von Simon Gallup. In den USA wurde dieses grandiose Stück dem vergleichsweise friedvollen „Lullaby“ als Single vorgezogen.
Der dritte Komplex folgt mit „Prayers for Rain“, dem Titelstück der Welttournee „Prayers Tour“. Ein depressives Stück Musikgeschichte über Erlösung spricht über Langeweile, die endlich vom Regen abgelöst werden soll. „The same deep Water as you“ erzählt in geschlagenen 9 Minuten über die Sinnlosigkeit, gegen den Strom zu schwimmen. Desillusioniert küsst man sich zum Abschied.
Der vierte Komplex beginnt dann mit dem Titelstück „Disintegration“. Es gibt nicht wenige Leute, die sagen, dass dieses verstörende Werk die Essenz aus allem ist, was The Cure auszeichnet. Nie wurde der Zerfall der Gesellschaft und des Menschen besser in Töne und Worte gegossen, nie war Wut besser intoniert als hier.
„Homesick“ beschreibt die Bitterkeit einer Verbindung, von der man weiß, dass sie nicht gut ist. Aber man bekommt nicht genug davon und möchte nicht davon ablassen. Nicht ein Funken Hoffnung, dass die Verbindung irgendetwas gutes hervor bringt. Aber man möchte nicht nach Hause.
Aus dem Gewitter der Trübsal und Hoffnungslosigkeit entlässt uns The Cure mit dem Lied „Untitled“. Das namenlose Werk ist eine Abrechnung mit der Welt bis hierher, und es schließt mit Monstern und Alpträumen ab. Der Hörer wird verstört und allein zurückgelassen, völlig fasziniert, wie viel Zerfall er sich in den vergangenen 72 Minuten angetan hat.
„Disintegration“ ist ein Meisterwerk. Es wurde entgegen der Befürchtung der Plattenfirma ein weltweiter Knaller in den Albumcharts. Ich würde das Album als das zentrale Album zum Zerfall der Weltenteilung bezeichnen. Mit „Disintegration“ wurde in Deutschland das Ende der Teilung eingeläutet oder in Europa das Ende des Ost-West-Konflikts. Viele Leute haben dieses Album als Schritt in eine neue Zukunft angesehen. Es konnte nach dieser düsteren, mystischen und melancholischen Platte nur noch besser werden.
The Cure haben es nie wieder geschafft, auch annähernd ein solches Meisterwerk zu produzieren. Es passt in diese kalten Novembertage. Und es ist ein Muss für jeden Fan. Und nur für die Vorstellung biete ich zum Anhören den großartigen Opener „Plainsong“:
Es war zu dem Zeitpunkt vielleicht auch einfach genau dass richtige, so wie viele Menschen sich gefühlt haben.
Ist aufjedenfall ein Klassiker für sich!
1A :-)
wahrlich , auch nach 30 Jahren immer noch fesselnd, nach dem start von Plainsong zwingt es einen bis zum Ende zu bleiben