Ich wuchs in der DDR auf. Als ich fünf Jahre alt war, das war 1978, erschien die erste Karat-LP. Darauf befindet sich diese großartige Nummer „Märchenzeit“. Bis heute hat dieses Lied nichts von seinem Reiz verloren. Es gehört irgendwie zum Soundtrack meines Lebens. Und selbst nach über 40 Jahren höre ich das Lied gern mal. Niemand sollte sich seine Märchenzeit nehmen lassen. Und auch heute noch spielen Märchen eine wichtige Rolle.
Am Abend zur Märchenzeit…
Wer den Text zum Lied lesen will, sollte einfach mal hierhin blättern. Die Märchenzeit ist so ein Ritual, das – soweit ich es mitbekommen hatte – viel zu wenig Beachtung findet. Gerade in der heutigen Zeit, die so schnelllebig ist und in der man eigentlich nur noch laut schreiend und mit ausgefahrenen Ellenbogen daher kommt, braucht der Mensch derartige Rituale.
Als meine Tochter klein war, hatte ich mich abends immer ans Bett gesetzt und ihr aus einem Buch vorgelesen. Mal waren es die Lokomotiven von „Chuggington“, mal die Gebrüder Grimm. Zur Weihnachtszeit kam es auch vor, dass „A Christmas Carol“ gelesen wurde. Das war meine Extrazeit mit meiner Tochter. Ihre Mutter hatte uns diese Zeit gelassen.
Es waren so die Momente, in denen man einfach mal den Lärm und jegliche dicke Luft draußen lassen konnte. Und egal, welcher Geist gerade Ebeneezer Scrooge zu Leibe rückte, sie konnten uns nichts. So, wie es Herbert Dreilich in der „Märchenzeit“ beschreibt: „Der Wolf konnt‘ mir nichts, und die Hex‘ war verbrannt“. Und das geht vielen Menschen irgendwie verloren. Schade eigentlich.
„Karat“ von Karat
1978 veröffentlichte AMIGA das erste Album von Karat. Das hatte keinen besonderen Namen. Es war vorn dunkelrot mit einem stilisierten Auge. Und hinten war eine kleine Fotosammlung und die Titelliste drauf. Auf der Platte befinden sich 10 Lieder, wovon etwa die Hälfte mehr oder weniger etwas mit Märchen zu tun haben. Das beginnt schon mit „Das Monster“, gefolgt von dem eher getragenen „Märchenzeit“.
Es wird behauptet, dass Karat auf der Platte noch keinen echten Stil hatten. Allerdings würde ich das nicht so unbedingt unterschreiben. Hört euch mal die „Märchenzeit“ an, wenn ihr die 4 Minuten Zeit habt. Ihr werdet merken, wenn ihr das Lied bisher nicht gekannt habt, wie zeitlos es ist. Und vielleicht fangt ihr dann auch an, Märchen vorzulesen.
Nein, ich meine hier nicht, „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ zu gucken. Ich meine wirklich, es sich mit einem Märchenbuch bequem zu machen und bewusst zu lesen. Und lest wieder mehr euren Kindern vor. Steigt einfach für diese Augenblicke aus der Welt aus. Ich glaube, das ist es, was Kurt Demmler gemeint hatte, als er „Märchenzeit“ für Karat getextet hatte.
Die Sache mit Neumi
Zur Zeit der „Märchenzeit“ war Hans-Joachim Neumann, genannt „Neumi“, Teil von Karat. Er sang verschiedene Lieder auf dem ersten Karat-Album. Dann verließ er die Band und gründete „Neumis Rock Circus“, vor allem bekannt durch „Der Clown“. Er hatte die hellere Stimme, mit Herbert Dreilichs markanter Stimme verglichen.
Ehrlich, ich möchte mir nicht vorstellen, wie die „Märchenzeit“ mit „Neumi“ geklungen hätte. Denn das Lied kommt ja als Erzählung um die Ecke. Und Neumi klingt nicht wirklich wie ein Erzähler (YouTube-Link zu „Der Clown“). Das Lied ist großartig, aber eine andere Nummer als die „Märchenzeit“. Und die ging nur mit dem unvergessenen Herbert Dreilich.
Das Lied
Jetzt habe ich so viel über die „Märchenzeit“ und die Umstände erzählt, da muss ich das Lied natürlich auch mal einbauen, oder? Es ist keiner der Mega-Erfolge von Karat. Aber ohne die „Märchenzeit“ hätte es keine sieben Brücken, kein „Magisches Licht“ und kein Panoptikum gegeben. „Märchenzeit“ war der Beginn des liedhaften Erzählens der größten Band der DDR. Jedenfalls sehe ich das so. Ihr könnt ja anderer Meinung sein.
Hallo Henning, jetzt bin ich weiter auf Deinem Blog hängen geblieben. Karat war schon Spitze, „Über sieben Brücken“ war da mein Favorite. Auch die Märchenzeit an sich verging viel zu schnell, meinen Kindern habe ich viele vorgelesen und im Gegensatz zu vielen heute Gleichaltrigen kennen sie diese noch. Ein Schlüsselerlebnis dazu war ein besuch der Festung Königstein, da fragte ein Mitarbeiter am Brunnen die Kindern nach 10 Märchen, in denen ein Brunnen vorkommt. Erschreckend, wie viele kleine Kinder gar keine Märchen kannten.
Ja, so ändern sich die Zeiten, ich hoffe dennoch Märchen werden bewahrt und kommen wieder in Mode.
LG Manja
Hallo Manja, vielleicht sollte man die Kids einfach mal in solche Orte wie Hessisch Lichtenau schleppen. Dort gibt es einen Frau-Holle-Parcour. Vielleicht ist sowas dann auch so ein Schlüsselerlebnis.