Sie haben es wieder geschafft: OMD haben bei mir Vorfreude auf das Album „Bauhaus Staircase“ entfacht. Und zwar mit dem großartig balladesken Stück „Veruschka“. War ich davor von dem Stück „Slow Train“ etwas erschrocken, haben die alten Männer von der Wirral-Halbinsel mit dieser Nummer wieder alles gut gemacht. Ich bin ehrlich: Hätte ich „Veruschka“ nicht gehört, wäre ich nicht auf die Idee gekommen, mir das neue Album vorzubestellen. Das hat sich schlagartig mit dem Stück geändert. Und darüber möchte ich gern ein paar Worte aufschreiben.
Fliegen lernen…
Die Scheinwerfer blitzen über eine regennasse Straße, als ein weiterer Tag verdunstet und verschwindet. Die Silhouette gegen ein blinkendes Licht. Ein weiterer Fremder fällt durch die Nacht.
Columbine und der Narr Pierrot: Ein hoffnungsloser Fall, weitere vierhundert Schläge. Handlungsstränge und alte Postkarten. Ein Abgesang auf den Wahnsinn: Sunset Boulevard.
Und wenn du niemals lernen wirst zu weinen, wie wirst du denn jemals Abschied nehmen? Und wenn du viel zu viel Angst vor dem Tod hast, wie wirst du denn jemals lernen wegzufliegen?
Die Essenz aus 10 Jahren
Stell dir vor, du hattest vor mehr als 10 Jahren eine wilde Idee, die aber nie verwirklicht wurde. Und diese Idee findest du wieder und bastelst während der Corona-Pandemie daran herum. Heraus kommt irgendwie alles, was OMD so besonders macht. Paul Humphreys hatte während der Zeit, als es OMD nicht gab, das Musikprojekt OneTwo mit der früheren Propaganda-Sängerin Claudia Brücken. Er war auch mit ihr liiert.
Das Stück, um das es hier geht, stammt aus dieser Zeit. Nach dem Debütalbum „Instead“ sollte es ein zweites Album geben, aber Claudia und Paul trennten sich, und dazwischen gab es die Wiedervereinigung von OMD. Die Akkordfolge, mit der Paul Humphreys herumgespielt hatte, geriet in Vergessenheit. Während des Lockdowns fand er sie wieder, nachdem er gelangweilt auf der Festplatte herum geklickt hatte: H-Moll, D-Dur, F#-Moll, G-Dur.
Andy McCluskey wiederum hatte dann den Backing Track bekommen und fummelte mit dem Refrain herum. Er bastelte um die 2 Jahre während Corona an einem Vers, denn nur Refrain wäre ein bisschen wenig. Er hatte keinen blassen Schimmer, wofür „Veruschka“ stand, also musste er Google benutzen. Die Suche ergab: Ah, wir haben es mit Film Noir zu tun. Und so sammelte Andy McCluskey lyrische Bilder, Landschaften und dergleichen, die von dem Genre abgeleitet sind.
Geschaffen wurde etwas, das wir ganz vorsichtig behandeln müssen. „Veruschka“ ist so ein wunderschönes, melancholisches Lied, das uns automatisch an verpasste Möglichkeiten denken lässt. Die Grundaussage in „Veruschka“ ist: Wenn du etwas versuchst, kannst du scheitern, wenn nicht, hast du aber schon verloren. So, wie OMD in all den 45 Jahren immer wieder neues versucht haben und auch mal gescheitert sind. Insofern ist „Veruschka“ ihr eigener Soundtrack.
Was ist denn nun aber Veruschka?
Ich habe keine Ahnung, ob das etwas mit dem Lied zu tun hat. Aber Veruschka – also besser: Veruschka – ist Vera Gräfin von Lehndorff, die als das erste deutsche Supermodel gilt. Die 84-jährige war auch in diversen Filmen zu sehen und hatte diverse Aktionen. Ihr Vater wurde wegen der Beteiligung an der Verschwörung gegen Adolf Hitler hingerichtet. Und sie hatte mit Andy Warhol zusammengearbeitet. Fotos, die man so von ihr im Internet findet, zeigen sie meistens nicht lächelnd. Vielleicht war das auch so ein Grund für den Titel des Stücks. Aber da würde ich zu viel spekulieren.
Das Lied
Akzeptiere, dass du im Leben Risiken eingehen musst. Diese Erkenntnis, in wunderschöne Moll-Synthie-Teppiche eingewoben, ergibt eine großartige Film-Noir-Ballade. „Bauhaus Staircase“ soll das politischste Album der Band sein, und vielleicht passt deshalb auch „Veruschka“ so gut auf die gesamte Platte, auf der sie irgendwo zwischen ABBA und Stockhausen ihre Sound-Experimente machen und ihre Statements verkünden. „Veruschka“ jedenfalls gehört zum Besten, was ich von den Herren jemals gehört habe.