Immer draufhauen auf den Deutschtürken: Mesut Özil ist nach der verpatzten Weltmeisterschaft der ausgemachte Buhmann. Für #DieMannschaft und fürs ganze Volk. Aber Fußball ist nun einmal ein Mannschaftssport. Und so richtig wie eine Mannschaft läuft das Aufarbeiten des Desasters nicht ab. Wenn man so einige Wortmeldungen Revue passieren lässt, kann man deshalb einen wunderbaren Abwasch der Woche aufschreiben.
Wieso ausgerechnet Mesut Özil?
Praktisch jeder, der Fußball verfolgt, wird es mir bestätigen: Mesut Özil ist ein wunderbarer Fußballer. Nicht umsonst spielt er in der Premier League immer wieder eine zentrale Rolle. Er ist ein genialer Passgeber, er ist der Puls des Spiels beim FC Arsenal, und er ist jahrelang neben Toni Kroos das Herz des Spiels der deutschen Nationalmannschaft gewesen. Und nun wird auf ihm herumgedroschen wie auf einer fett gefüllten Piñata.
Lag es denn wirklich an dem unsäglichen Foto, was er da mit dem türkischen Präsidenten gemacht hat? Viele vergessen, dass so etwas vor Jahren auch schon mal veranstaltet wurde. Nur war es damals kein Problem. Jetzt offenbar schon. Oder lag es daran, weil er das Deutschlandlied nicht mitsingt? Stimmt es denn, wenn die AfD drauflos unkt, er sei „kein richtiger Deutscher“. Was ist das denn? Muss dazu die Armee an Gartenzwergen im Vorgarten existieren?
Auf Mesut Özil wird nun eingehauen, als gäbe es kein Morgen. Er ist der Sündenbock, der Buhmann. Auf ihn zeigt man mit dem Finger. Aber macht man es sich nicht ein wenig zu einfach? Ja, auch ich kritisiere diese Foto-Aktion mit Erdogan. Aber da zum Fußballspielen eine Mannschaft gehört, kann Mesut Özil nicht allein für das Scheitern verantwortlich sein. Vielleicht gibt es da ja noch ein paar mehr Gründe. Ein paar hatte ich ja schon mal aufgeschrieben.
Deutschland ist keine Fußball-Weltspitze mehr
Ja, in der FIFA-Rangliste steht Deutschland im Moment auf Platz 1, knapp 130 Punkte vor Brasilien, das auch etwa in diesem Abstand vor Belgien steht. Das hat die A-Nationalmannschaft im Herbst 2017 geschafft. Es muss an der makellosen Qualifikation, dem Weltmeistertitel und der ordentlichen Leistung bei der letzten Europameisterschaft liegen. Aber der Schein trügt etwas.
Stefan Kuntz, Trainer der U21-Nationalmannschaft merkte jüngst an, dass das Problem nicht unbedingt nur an den derzeitigen Weltstars der A-Nationalmannschaft liegt. Sondern dass es da ein viel tieferes Problem gibt. Also neben Selfies und dem ganzen #ZSMMN-Hokuspokus. Und das heißt Nachwuchs. Wenn die Clubs in der Liga ihren Nachwuchs nicht spielen lassen, dann fehlt eben auch ein wenig die Identifikation mit der Nationalmannschaft.
Kuntz bezog sich auf den FC Bayern, Borussia Dortmund, RB Leipzig, FC Schalke. Speziell in Leipzig kann ich das ja nachvollziehen: Der Club holte sich lange Zeit einen runter wegen der Nachwuchsarbeit. Die muss eigentlich top gewesen sein. Warum aber kauft sich der Club immer wieder „Top-Talente“? Warum suchen Nachwuchsspieler woanders ihr Glück, und wieso hält sie der Club nicht auf?
Jetzt, da es große Diskussionen um die Saisonleistung von Emil Forsberg gibt und man nicht absehen kann, ob er bliebt, müsste man doch eigentlich darauf setzen, diese Position sicher zu haben. Ademola Lookman konnte bisher nicht verpflichtet werden. Bruma macht dort einen guten Job. Und als Backup? Da gäbe es Elias Abouchabaka. Aber der wird lieber an die SpVgg Greuther Fürth verliehen. Wieso denn nur?
Wo sind sie hin?
Stefan Kuntz hat keine Not. Er hat fantastische Nachwuchsspieler, die 2017 in Polen gegen Spanien Europameister wurden. Aber auch er sieht die Entwicklung. Im aktuellen Kader finden sich mehrheitlich Namen, die man eben nicht so auf dem Zettel hat. Stefan Kuntz muss eben Spieler in die Nationalmannschaft berufen, die fast ausschließlich bei keinem der üblichen Verdächtigen spielen. Die spielen eben in Mainz oder in der Zweiten Bundesliga.
Jeder Club hat ein Nachwuchsleistungszentrum. Und ich unterstelle einfach mal, dass dort überall gute Arbeit geleistet wird. Aber was denken sich die Nachwuchsspieler, wenn man sie wegen der guten Trainingsleistungen und der Nachwuchs-Bundesliga streichelt, ihnen Profi-Verträge um die Ohren haut und sie dann versauern lässt? Ein gutes Beispiel hierfür ist auch wieder bei RB Leipzig der John-Patrick Strauß, der mittlerweile in Aue spielt, weil er hier keine Chance hatte.
Ist die Nachwuchsarbeit doch nicht so großartig, wie man immer behauptet? Oder wieso holen die Clubs immer „Top-Talente“ von sonstwo her und lassen den gleichaltrigen Nachwuchs am langen Arm verhungern? Die hiesigen Nachwuchsspieler suchen dann wiederum sonstwo ihr Glück. Aber Verbundenheit schafft man damit dann aber eigentlich nicht. Oder sehe ich das falsch?
Fehlender Zusammenhalt
„Der Fall Mesut Özil“ zeigt aber nicht auf das Problem mit dem Nachwuchs. Er zeigt ein ganz anderes Problem. Mesut Özil ist wie der Typ, der auf dem Schulhof geraucht hat und dabei erwischt wurde. Die Kumpels stehen in der Nähe und pfeifen sich eins mit den Händen in den Hosentaschen, während er zurecht gewiesen wird. Da kann er noch so sehr der Einser-Schüler sein. Ab dem Zeitpunkt ist er das schwarze Schaf.
Plakate werden aufgehängt, die von Rauchverbot künden und die ihn mit Kippe im Mund zeigen. Und der Klassensprecher kommt nicht auf die Idee, dagegen im Sekretariat zu intervenieren. So ungefähr wirken auf mich die öffentlichen Wortmeldungen von Oliver Bierhoff und Reinhard Grindel und die fehlenden Bekenntnisse zum introvertierten Genie Özil von Mannschaftskollegen wie Hummels und vor allem Neuer.
Und weil man schon mal dabei ist, drischt man immer weiter drauf. Grindel wurde nicht müde damit. Und Bierhoff brachte eine angeblich falsch verstandene Wortmeldung, dass man vielleicht doch eher auf Özil hätte verzichten sollen. Die öffentlichen Brandmarkungen als türkischer Vernichter des deutschen Fußballs, die die deutschen Medien da brachten, wurden von der DFB-Führung aber auch nicht korrigiert. Im Gegenteil: Man tat nichts, um Mesut Özil zu stärken.
Was machen da Grindel und Bierhoff eigentlich?
Jaja, Oliver Bierhoff war 1996 der Messias, als er das legendäre Golden Goal während der Europameisterschaft in England schoss. Und natürlich war er ein sehr effektiver Stürmer. Aber abseits des Schießens von Toren hielt ich ihn immer für überschätzt. Nun ist er seit 14 Jahren Team Manager der Nationalmannschaft. Unter ihm fand eine Sozialnetzwerkisierung statt. Und bei den Facebooks der Welt gewinnt nun einmal der, der am lautesten brüllt.
Reinhard Grindel wiederum fiel vor seiner DFB-Präsidentschaft dadurch auf, dass er von jungen Deutschen mit doppelter Staatsbürgerschaft forderte, sich für eine Nationalität zu entscheiden. Und er gilt nicht unbedingt als jemand, der die Integration von Migranten in den DFB fördern würde. Der hat das Sagen und fordert von Mesut Özil eine Erklärung zum bewussten Erdogan-Fotoshooting. Was soll dabei herauskommen?
Jedenfalls hacken beide – und nicht nur die – immer wieder auf dem Deutschtürken herum. Und die Meute der früher „Schland“ rufenden Fußballgucker beherbergt auch eine ganze Menge, die laut den Rücktritt von Mesut Özil fordern. Aber genau das wäre ein falsches Zeichen. Die Nationalmannschaft muss immer ein Vorbild sein. Und hier wäre man gut beraten, Özil in die Mitte zu nehmen und aufzubauen, statt ihn vom Hof zu jagen.
Was nämlich in der ganzen Diskussion komplett untergeht und seit dem Erdogan-Bild keine Beachtung mehr findet: Mesut Özil ist nach wie vor ein überaus begnadeter Fußballer. Wer ihn davon jagt, provoziert Konsequenzen, die weit über #ZSMMN hinaus reichen. Eine positive Multikulti-Gesellschaft wie Deutschland würde damit nachhaltig geschädigt. In Zeiten wie diesen, in denen „Asyltourismus“ ein adäquater Begriff wurde, ist das ein nicht reparierbarer Schaden.
Halb-Deutschland besteht aus Migranten
Wenn wir mal die türkischen Gastarbeiter bei Volkswagen oder Mercedes sehen oder all die anderen Migranten, dann können wir einfach nicht davon ausgehen, dass in Deutschland kein Multikulti stattfindet. Migration findet statt, seitdem der Mensch weiter wandert, als bis zum Rand des Schattens des Kirchturms. Eigentlich gibt es Migration immer schon. Denken wir an die Israeliten, die laut Überlieferung aus Ägypten nach Palästina wanderten.
Ich hatte mal vermutet, dass ein gewaltiger Teil des deutschen Volkes in irgendeiner Form einen Migrationshintergrund aufweist. Und ich bleibe auch dabei. Das macht doch Deutschland erst zu dem Land, was die Union im letzten Bundestagswahlkampf #fedidwgugl nannte. Mesut Özil ist der Giesinger’sche „Einer von 80 Million, dödödödöp“, den wir vor 4 Jahren wie besoffen geträllert haben.
Es greift für mich zu kurz, all das Unverständnis über ein Foto als Grund für das Abschneiden einer ganzen Mannschaft herzunehmen. Deutschland ist nicht wegen dem Fotoshooting ausgeschieden. Sondern weil die Mannschaft mies gespielt hat. Auch Mesut Özil. Aber eben nicht er allein. Wie bereits angesprochen, ist Fußball ein Mannschaftssport. Und bei der WM in Russland hat die ganze Mannschaft versagt.
Das hat aber nichts mit irgendeiner schief gegangenen Integration eines Migranten zu tun, wobei letzter Begriff ja gar nicht auf den in Gelsenkirchen geborenen Özil zutrifft. Was da momentan abläuft, wirkt für mich nur wie die Steinigung eines Sündenbocks. So wie Timo Werner wegen einer einzigen Schwalbe wie ein Ketzer auf den Scheiterhaufen gestellt wurde. Der Fußball hat ganz andere Probleme. Fotos und Schwalben gehören da gewiss nicht mit an die vorderste Front.
Lasst das Piñata-Gehabe
Mesut Özil singt halt nicht die deutsche Hymne mit. Und ja… Das Foto! Ganz schlimm! Es ist der Untergang. Aber jetzt ist es auch mal wieder genug damit, ihn als Piñata anzusehen. Egal, wie doll man auf ihn drauf drischt, es kommen keine Süßigkeiten unten raus. Also könnt ihr das Alles auch wieder lassen. Es ändert ja nichts daran, dass er einer der besten Fußballer Deutschlands ist.
Wie sehr man sich täuschen kann, erinnert auch wieder an die Golden-Goal-EM von 1996, als ein französischer Spieler mit algerischen Wurzeln medial abgeschlachtet wurde, weil er nicht „La Marseillaise“ mitsang. Heute ist er Weltfußballer und einer der besten Trainer der Geschichte. Zinedine Zidane erlebte das gleiche Schicksal wie Mesut Özil. Und der ging auch seinen Weg. Das Eindreschen hatte also am Ende gar nichts genützt.