Die spätrömisch dekadenten Arbeitslosen und das Maß „1 Guido“

 

Jeder Mensch erhält auf seine eigene Art ein Bild seines Gegenübers: Man erlangt Kenntnis – oft nur vermeintlich – von anderen durch Erfahrung, Hörensagen, falsche Schlüsse, etc. Welches Bild soll ein Bürger dieses Landes von einem Arbeitslosengeld II-Bezieher erhalten, der von Guido Westerwelle, unser Knüppel aus dem Sack der FDP, als spätrömisch dekadent beschrieben wird?

 

Zunächst einmal zur Klärung des Begriffes „spätrömisch dekadent“: Die Spätantike war eine Epoche des Zerfalls von Moral und Kultur. Hierzu verweise ich auf das Werk „Decline and Fall of the Roman Empire“ von Edward Gibbon. Dekadenz ist ein ursprünglich geschichts-philosophischer Begriff, mit dem Veränderungen in Gesellschaften und Kulturen als Verfall gedeutet und kritisiert wurden. Der Begriff setzt damit voraus, es gäbe objektiv bessere oder wünschenswertere Zustände.

Mit anderen Worten ist damit gemeint, dass Herr Westerwelle die ausschweifenden Gelage ohne Maß und ohne Sinn und Verstand meint, wenn er vor spätrömischer Dekadenz bei Arbeitslosengeld II-Beziehern warnt.

Ausschweifende Gelage bei gefühlt 90 % der Bezieher von Arbeitslosengeld II sind z.B. das erste Mittagessen am 1. eines Monats. Diese Gelage ufern so weit aus, dass sich der dekadente Arbeitslose sogar eine zweite Portion gönnt, weil ihm diese zu schade zum Wegwerfen wäre.

Zum Monatsende gar hat der dekadente Arbeitslose noch die Frechheit, im Angebot befindliche Ware zu kaufen und diese auf die restlichen Tage zu verteilen.

Und schon sind wir wieder bei einer Debatte: Mein Garten ist grüner, dein Teller ist güldener. Ich möchte daher gern eine neue Maßeinheit einführen: 1 Guido. Ein Guido ist der maximale Abstand zwischen zwei Fettnäppfchen.

Und Herr Westerwelle hat das Guido nahezu perfektioniert. Es vergeht scheinbar kein Tag, an welchem er sich nicht noch unbeliebter macht. Der Herr Westerwelle hat sicherlich verdrängt, dass auch viele derer, auf deren Gemüt und Ruf er gerade herumtrampelt, ihn und die FDP zur Regierung verholfen haben.

Worüber regt er sich auf?

Ein Bezieher von ALG II hat 359 € monatlich zum Leben. Hinzu kommen Zahlungen für „Unterkunft und Heizung“. Dieser Posten heißt wirklich so, laut dem Bescheid für meine Bedarfsgemeinschaft. Wir erhalten alle halben Jahre einen neuen Bescheid, obwohl ich in qualitativ anspruchsvoller Stellung arbeite.

Eine Friseurin aus dem Raum Leipzig erhält vielleicht 4,00 € pro Stunde und hat vielleicht genauso viel wie ein ALG II-Bezieher.

Was Herr Westerwelle vergisst ist die Tatsache, die Herr Prof. Hans-Werner Sinn, Chef des ifo-Instituts und nicht eben als sozialistisch bekannt, nennt: Es kommt dann bei der Friseurin zum Aufstocken.

Laut der Rechnung von Prof. Sinn wird die Friseurin immer spürbar mehr Einkommen als der ALG II-Bezieher haben, weil die Aufstockung dies ermöglicht. Den gesamten Beitrag können Sie hier noch einmal sehen.

 

Herr Prof. Sinn hat in eben jener Sendung auch festgestellt, dass man vielerorts und zu einem großen Teil den ach so faulen Arbeitslosen gar keinen Vorwurf machen kann. Bei ALG II handelt es sich ja um eine Sammlung von den Gruppen Arbeitslos, Maßnahmeteilnehmer, Sozialhilfe und Geringverdiener.

Wir reden hier über die Summer von 4 Millionen so genannten „Hartzern“, die – überspitzt gesagt – außer Saufen und im Schritt jucken nichts weiter tun.

Nein, Herr Westerwelle, so ist es nicht.

  • Die Maßnahmeteilnehmer sind alle diejenigen, die umschulen, eine so genannte Arbeitsgelegenheit (400 € Job, 1 € Job, frühere ABM) oder sonstige Maßnahmen der Arbeitsagentur besuchen.
  • Geringverdiener sind eben jene, die arm trotz Arbeit sind, wie die oben genannte Friseurin.
  • ALG II beziehen auch all diejenigen, die aus gesundheitlichen Gründen gar nicht zum Arbeiten oder nur zu ganz geringfügiger Beschäftigung in der Lage sind.
  • Arbeitslos sind all die anderen, von denen sich meiner Ansicht nach nur der aller geringste Teil „eingerichtet“ hat.

Und all diese Leute schert Herr Westerwelle als spätrömisch dekadent über einen Leisten und weiß gar nicht wovon er redet.

Er sollte sich auch nebenher einmal den Begriff „Sozialismus“ zu Gemüte führen. Man findet einen entsprechenden Artikel in der Online-Enzyklopädie Wikipedia.

Ich glaube nicht, dass es in irgendeiner Weise mit Sozialismus zu tun hat – oder auch nur mit sozial – wenn Kindergeld als Einkommen angesehen wird. Dann passiert das, was im Januar geschah: Die Kindergeldsätze wurden angehoben und dadurch die ALG II-Leistungen gekürzt. Warum ist ein ALG II-Bezieher auch nur so dekadent, sich Kinder zuzulegen?

Keine Sorge, ich befinde mich in einer ALG II-Bedarfsgemeinschaft und bin Vater. Ich weiß, wie ungerecht diese unsinnige Regelung ist. Laut diesem Artikel in der Wikipedia ist Kindergeld kein Einkommen, aber eben Transferleistungen wie ALG II sind Einkommen. Also hätte ALG II nie gekürzt werden dürfen, wenn das Kindergeld erhöht wird.

Diesen Unsinn, der hier angerichtet wurde, muss mir Herr Westerwelle, besser noch Frau von der Leyen erklären.

Und wie dekadent ein Bezieher von ALG II lebt, sollte Herr Westerwelle wohl lieber selbst einmal ausprobieren. Erst dann sollte er sich wieder zu Wort melden. Alles andere ist frühgotische Verklärtheit.

Herr Westerwelle bekommt diesen Artikel zugestellt. Über entsprechende Antworten werde ich berichten.

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